LDV98-9

33 FRANÇOIS-FRÉDÉRIC GUY Chopin erfand eine neue Sprache, eine Ausdrucksart des musikalischen Gefühls in neuen Formen wie der Nocturne und der Ballade. Dabei widmete er sich zumeist recht kurzen Formen und verwendete indirekt Volksmusik, während seine Musik „nur“ pur ist. Die purste neben jener Mozarts. Darum ängstigt sie, denn die winzigsten Unreinheiten schaden ihr. Strebt diese Welt nach Perfektion? Sagen wir es so: Eines der Paradoxe in Chopins Werk ist, dass es mit extremer Präzision komponiert wurde, obwohl es in eine Zeit gehört, die die menschlichen Gefühle offenlegte. Das von den Romantikern genutzte Ich – anstellte des Wir oder des Ihr der Klassik – unterscheidet sich sehr vom Beethoven’schen Ich. Wie ein prometheischer Gott, der die Materie schmiedet, führte der Wiener Musiker die Klassik zur Romantik. Im Gegensatz dazu erscheint Chopin wie ein „klassischer Romantiker“. Die Strenge seiner Komposition – wobei die Strenge dem Ausdruck der Fantasie im Sinne der Kompositionsform oder der Vorstellungskraft keinen Abbruch tut – die Klarheit des Kontrapunkts, die Notation der Pedale von unerhörter Genauigkeit, die Art, das Instrument atmen zu lassen, all das im Dienste des Kantabile, waren in der Musikgeschichte völlig neu.

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