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29 FRANÇOIS-FRÉDÉRIC GUY Also eine Freiheit mit Rahmen… Das ist eine Gemeinsamkeit mit der barocken Komposition, wenn ich mir diesen gewagten Vergleich erlauben darf. Die Grundhaltung lässt sich tatsächlich vergleichen. Tristan Murails Stil zeugt von einer gedanklichen Freiheit, die sich sogar in den Grafismen der Partituren finden lässt. Die Taktstriche werden abgeschafft und einige musikalische Phrasen bestehen aus Noteninseln, die aufeinandertreffen oder sich überlagern. Er zeichnet die Freiheit mit einer höchst persönlichen und für den Interpreten vielsagenden Gestaltung. Damit löst er eine der Problematiken der zeitgenössischen Musik der 70er Jahre, die zuweilen von irren Taktstrichen überladen war. Ob nun zu Recht oder Unrecht, man dachte, sich von Taktzyklen befreien zu können, indem man Taktstriche vermehrt einsetzte, als bräche man so besser mit der Tradition. Bei Murail ist der Takt zugunsten der Verräumlichung des Klangs verschwunden. Die Anfänge davon gab es bereits bei Debussy… Was die Harmonie angeht, bietet das Universum der Spektralmusik flüchtige Berührungspunkte mit bestimmen Akkorden aus der traditionellen Tonalität, was für eine spannende posttonale Harmoniewelt sorgt. In der Tat ist man sich weder der Harmoniewelt um sich herum gewiss, noch ist man je verloren. Für mich ist es eine nahezu ideale musikalische Ausdrucksweise des 21. Jahrhunderts.

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