LDV98-9
39 FRANÇOIS-FRÉDÉRIC GUY Um auf die Klaviersonate h-Moll zurückzukommen: In der Partitur zeigte Chopin, wie perfekt er die Großform beherrschte. Der langsame Satz wirkt in gewisser Hinsicht wie die größte Nocturne, der er je komponierte. Meine Interpretation beansprucht keine bestimmte Tradition für sich. Sie versucht sich eher an einer Synthese zwischen der Freiheit, die sich einige Interpreten der Vergangenheit nahmen, und der Komplexität oder gar Strenge anderer. Bei den einen kann ein gewisses Feuer fehlen, bei den anderen eine gewisse Rigorosität. Und was die polnische Tradition angeht… Chopin brachte Polen gewissermaßen nach Frankreich, wo er sein Hauptwerk in den Pariser Salons aufführte, die gen Europa geöffnet waren. Sie spielen sehr regelmäßig das zeitgenössische Repertoire. Wie schätzen Sie Chopins Einfluss auf die Komponisten unserer Zeit ein? Pierre Boulez spielte Chopins Nocturnes und Mazurken. Chopins Stil soll einige seiner Notations inspiriert haben. Die Vorliebe für Aphorismen ist bei beiden Musikern zu beobachten. Henri Dutilleux verbarg seine Bewunderung für den Komponisten der Barcarolle nicht. Und Tristan Murails jüngstes Klavierkonzert L’Œil du cyclone , das ich in Paris uraufgeführt habe, trägt den Untertitel „Fantaisie- Impromptu“! Dass einer der großen Komponisten von heute ein solches Erbe auf sich nimmt, ist aufschlussreich und eine außerordentliche Hommage.
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