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DAVID GRIMAL ∙ LES DISSONANCES 35 Sie sagten, dass Enescu zur Generation der mitteleuropäischen Komponisten gehörte, die die traditionellen Musiken ihres Landes in ihren eigenen Stil einfließen ließ. Wie äußert sich das bei ihm? Als Bartók Volksmusik in seinen Werken verwendete, behielt er deren Geist trotz eines „vereinfachten“ Satzes bei, der das Unübermittelbare der oral überlieferten Musik nicht zu vermitteln versuchte. Bei einer nicht schriftlich überlieferten Musik stellt das schriftliche Festhalten zwangsweise eine Vereinfachung dar. Das Niederschreiben des Rhythmus’, der Verzierungen, der nichttemperierten Intonation ist das Fixieren von kurzlebigen und lebendigen Phänomenen, die in der traditionellen Musik so schwer festzuhalten sind. Enescu versuchte mit Angaben der Klangveränderungen, der Vierteltöne, der Glissandi, der Vibrationen, manchmal sogar mit mehreren Angaben pro Note, dem Interpreten den Weg zur Authentizität im Ausdruck zu weisen. Ich habe das Gefühl, dass er uns den Geruch der Erde des Dorfs, der Sonne auf dem Weizen und der gegerbten Haut des Greises, der ihm seine Geschichte am Wegesrand vorsang, riechen lassen wollte. Obwohl Bartók und Enescu beide auf rumänischem Gebiet geboren wurden, Ersterer an der ungarischen Grenze, Letzterer an der moldawischen, sind sie sehr unterschiedlich in ihrem Wesen und haben zweifelsohne nicht dieselben Dörfer besucht. Wir betrachten diese Musiken im Kontext einer Nation, obgleich sie andere Gebiete betreffen und ihre Geschichte anderen geografischen Logiken folgt.
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