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DAVID GRIMAL ∙ LES DISSONANCES 33 Seine Musik weist also mehrere Gesichter auf? In der Tat weist sie meines Erachtens hauptsächlich zwei Seiten auf: Einerseits verarbeitete Enescu volkstümlichen Stoff, andererseits wandelt er diesen, im Anschluss an sein französisches Studium, zu einer Sprache, die zahlreiche Satztechniken nutzt. Diese Werke von zuweilen extremer Dichte und Komplexität erfordern eine wahre Anstrengung seitens des Publikums und der Interpreten, die klar und lesbar spielen müssen. Enescu ließ sich manchmal von der Trunkenheit der Komposition mitreißen, und die Interpreten müssen in der Lage sein, die Informationen einzuordnen, wenn nicht alle darin versinken sollen! Nadia Boulanger bemerkte in Bezug auf die Erste Violinsonate Folgendes: Von schlechten Musikern gespielt klänge sie wie eine Musik mit zu vielen Noten. Wisse man jedoch „in der überfüllten Unendlichkeit der Stimmen und Nuancen den roten Faden zu finden (und dazu muss man Schöpfer sein), lichtet sich die Sonate.“ Nadia Boulanger bringt die Problematik von Enescus Musik sehr deutlich zum Ausdruck. Sie erfordert Herz, Lyrik, aber auch viel Transparenz. Es ist eine sinnliche und intellektuelle Musik. Man muss zugleich präzise und elliptisch sein, die Details begreifen, ohne sich darin zu verlieren, aufmerksam sein und darf den Geist nie entschwinden lassen.

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