LDV74

FLORIAN NOACK 55 Die Flüchtigen Erscheinungen Op.22 sind zwanzig kurze, elliptische Stücke. „Sie tendieren zu etwas hin, wasman gern alswesentlich bezeichnenwürde.Aber diese Selbstbehauptung scheint mir die großen Wahrheiten des Werkes zu verfälschen: dass es eine Ansammlung kleiner Fragezeichen ist.“ Sich dem zu stellen, bedeutet, einen anderen Aspekt des künstlerischen Schaffens zu analysieren, von dem man manchmal denkt, es bestünde aus Behauptungen und Meinungen. Florian Noack zufolge kann nun aber der schöpferische Prozess in der Musik genauso gut durch das Fehlen einer Sichtweise geprägt sein. Wenn die zeitgenössische Kunst für das Nihil oder die Frageform viel Platz lässt, dann sind die Flüchtigen Erscheinungen vielleicht ein Vorgeschmack von vielen anderen. Sie erlauben dem Interpreten, eher Schleuser statt Träger zu sein. Schleuser von Eindrücken und Ungewissheiten statt Träger einer bestimmten Botschaft, deren Begleitumstände er verstanden hätte und deren Musik, die seinen Fingern entspringen würde, die Synthese wäre. Diese Übung gewährt dem Komponisten Freiheiten, die nichts mit ihm gemeinsam haben. Diejenige, zum Beispiel, nicht er selbst zu sein. „Manchmal ist der Einfluss von Poulenc spürbar. Manchmal könnte man sich einbilden, Ravel zu hören, nämlich wenn die Emotion die Form eines gespannten Seils annimmt, das jeden Augenblick reißen könnte.“ Diese empfindlichen, harmonischen Konstrukte sind unbeschreibliche, winzige Kathedralen. Sie erinnern an eine Interjektion von Golaud, welcher – als er Mélisandes Augen sieht – ruft „dennoch bin ich weniger entfernt von den großen Geheimnissen des Jenseits als vom kleinsten Geheimnis dieser Augen“.

RkJQdWJsaXNoZXIy NjI2ODEz