LDV70

34 BACH TO NOTRE-DAME Allgemein lässt sich also sagen, dass jedes von Ihnen interpretierte Stück durch das Prisma der Zeit und der anderen Interpreten geformt wurde. Das stimmt so sehr, dass ich für diese Platte sogar einige Stücke, die ich schon seit 30 Jahren spiele, neu gelernt habe. Aber Sie haben recht, ich kann die Organisten, die Bachs Werk genährt haben, nicht vergessen. Dazu zählen sowohl mein Lehrer Gaston Litaize, als auch die vielen vor und nach ihm: Louis Vierne, Marcel Dupré, Pierre Cochereau, Marie-Claire Alain, Michel Chapuis, André Isoir, was die Franzosen angeht. Die Deutschen Karl Straube und Helmut Walcha sind nicht zu vergessen, wobei diese Liste niemals erschöpfend sein kann. Dennoch betrachte ich die historischen Interpretationen nie aus rückständiger oder steriler Perspektive. Was brächte es, die Errungenschaften meiner Vorgänger zu plagiieren? Die Interpretation entwickelt sich ständig weiter, ebenso wie sich unsere Wahrnehmung von Klang und Schönheit von jener vergangener Künstler unterscheidet. Um auf den englischen Ausdruck zu verweisen, können wir lediglich „historisch informiert“ sein (historically informed performance). Warum berührt es mich dann, Louis Vierne 1929 Herzlich tut mich verlangen BWV 727 in Notre-Dame spielen zu hören? Es klingt wunderbar! Dasselbe verspüre ich, wenn ich die Version von Pièce d’orgue BWV 572 höre, die Marcel Dupré in der Kirche Saint-Sulpice in Paris aufzeichnete. Darin finde ich Inspiration, auch wenn ich eine andere Vorstellung der Werke habe.

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