29 OLIVIER LATRY Sie sagen, dass Notre-Dame Stücke mit weniger ausgeprägter Polyfonie verlangt? Ich habe massive Stücke ausgewählt, was nicht heißt, dass einige davon weniger polyfon sind, wie das Ricercar a 6 BWV 1079, Auszug aus Musikalisches Opfer. Es gilt, eine deutliche Polyfonie zu wahren, indem beispielsweise eine oder mehrere Stimmen auf verschiedenen Manualen isoliert werden. Dasselbe gilt für die Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582, eine der genialsten Partituren Bachs. Die Passacaglia, die ursprünglich ein Tanz ist, besteht aus zwanzig Variationen oder, genauer gesagt, aufeinanderfolgenden Metamorphosen eines anfänglichen Themas. Die musikwissenschaftliche Analyse des Werks deckt die komplexe Symbolik der Zahlen auf, die bei Bach so grundlegend ist. MarieClaire Alain fand Verbindungen zwischen den Chorälen des Orgelbüchleins – eine Sammlung aus 45 choralgebundenen Orgelstücken und sozusagen die „Bibel“ des Komponisten – und dem Aufbau der Passacaglia. So illustriert der Komponist in diesem Stück musikalisch das Leben Jesus anhand verschiedener Choräle. Das Werk ist ein wahrhaftiges Gedankenspiel, das eine ganz eigene Welt offenlegt, welche entsteht, lebt, vergeht und wiedergeboren wird, ähnlich wie spätere Werke, zum Beispiel die Goldberg-Variationen.
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