LDV44

VANESSAWAGNER 41 Warum haben Sie sich besonders für Harmonie poétiques et religieuses entschieden? Ich habe begonnen, im Konzert einige der Harmonies als Begleitung von Via Crucis zu spielen. Jedes Mal packte mich der wiederholte Wechsel zwischen zwei Gemütszuständen: der grandiose, hochtrabende, zuweilen sogar ekstatische Überschwang und die Einkehr, eine nahezu meditative Besinnlichkeit. Diese Verflechtung der Gefühle finde ich besonders großartig. Pensée des morts beginnt zum Beispiel mit einem gewundenen Pfad in den tiefsten Noten des Klaviers, führt weiter zu einer religiösen Liturgie und schließt mit einem Finale von absolut unglaublicher Lyrik und Eloquenz! Es ist eine wahrhaftige Initiation, die von extremer Nüchternheit bis zur größten Ekstase reicht. Ich habe diese Stücke vor demEinspielen sehr oft gespielt. Es ist eineMusik, die eine lange Reifezeit verlangt, weil sie über die Virtuosität hinaus vom Interpreten eine innere Entwicklung fordert, eine nahezu philosophische Reise der Selbsterforschung. Hatten Sie das Bedürfnis, sich in Lamartines Harmonies poétiques et religieuses zu vertiefen, von denen sich Liszt inspiriert hat? Als ich jünger war, hatte ich seine Gedichte gelesen und sehr gemocht. Für die Arbeit an Liszts Zyklus las ich sie erneut, löste mich jedoch schnell von ihnen. Sie erschienen mir zu lyrisch, zu „jugendlich“. In meinen Augen übertrifft Liszts Musik bei Weitem ihr dichterisches Vorbild.

RkJQdWJsaXNoZXIy NjI2ODEz