LDV38.1
59 CÉDRIC PESCIA Spüren Sie in seiner Schreibweise Improvisation? Offensichtlich ist sie wesentlich. Ich bin sicher, dass einige Präludien sehr schnell komponiert wurden... Wer weiß, vielleicht in zehn Minuten! Er hatte keine Zeit, sich lange aufzuhalten. Seine Partituren ohne Streichungen lassen dahingehend keine Zweifel zu. Erkennen Sie eine Weiterentwicklung in Bachs Schreibweise zwischen dem ersten und dem zweiten Buch, aber auch innerhalb der beiden Zyklen? Im ersten Buch scheint mir die Einheitlichkeit des Ganzen erwiesen. Bach nahmseinenDienst in Leipzig auf undmusstewahrscheinlich zeigen, dass er seine Kunst perfekt beherrschte. Das erste Präludium C-Dur , das bekannteste von allen, ist typisch: Es handelt sich um eine Begleitung ohne Melodie. Im Gegensatz zu diesem Präludium ist die letzte Fuge dieses Buchs, die Fuge in h-Moll , meiner Meinung nach die bewegendste, und ihre Melodie ist eine der schönsten, die er je komponierte. Der Interpret tritt damit in die reinste, ganz und gar diatonischeWelt ein, ein Moment beispielloser chromatischer Raffinesse. Dieser erstaunliche Schreibkontrast wiederholt sich nicht im zweiten Buch, dessen Entstehung viel länger dauerte. Darin erkennt man weniger den demonstrativen Aspekt. So erscheint das Thema in der Fuge F-Dur fünf Zeilen lang nicht, was Bach im ersten Buch wahrscheinlich nie getan hätte. Mit der Zeit erlaubte er sich Freiräume.
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