36 FAURÉ ∙ NOCTURNES Ihre erste Solo-Platte war Beethoven gewidmet. Warum nicht gleich Fauré? Ich fühle mich auch tief mit Beethovens Musik verbunden. Sie ist strukturierter, klarer und direkter im Ausdruck und schien mir für eine erste Platte geeigneter. Faurés Musik, in der nichts wirklich aufgelöst wird, ist da ganz anders. Sie steckt voller Paradoxe. Der Komponist hält darin eine Art Zweideutigkeit aufrecht. Sie erfordert eine lange Reifung, verlangt eine besondere Temporalität, in die der Interpret eintauchen muss, um seine Sicht festzuhalten. Eben dieses Ungreifbare stellt uns beim Einspielen vor Herausforderungen. Wie würden Sie die Paradoxe definieren? Es fällt mir schwer, Faurés Musik in Worte zu fassen. Für Vladimir Jankélévitch richtet sie sich ans Ohr und ist keine räumliche Kalligrafie. Ich spüre sie eher. Das Geflecht der Linien, die immensen Phrasen bieten eine Vielzahl an Wegen. Im Moment, in dem ich sie spiele oder in dem man sie hört, nimmt man die möglichen Pfade wahr. Der Komponist scheint uns vor eine Wahl zu stellen, doch in Wirklichkeit hat er bereits eine Richtung festgelegt und führt uns auf einen unvorhersehbaren Weg. Genau das macht süchtig nach seiner Musik! Das Paradox, das Harmonie und Melodie eng miteinander verbindet, liegt seinem Ausdruck zugrunde. Man ist der Held dieser Musik!
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