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Folglich ist das gesamte Album durchzogen vom Gegensatz zwischen der Lerche, dem Symbol für Tag und Sonne, und der Glocke, dem Symbol für Abend und Nacht? In der Tat. Dinu Lipatti und Violeta Dinescus Échos de carillons sind natürlich Nachtstücke. Voix de la steppe wirkt auch wie ein Traum, doch alles Tänzerische verweist auf den Tag, weil man sich zum Sonntag auf dem Dorffest trifft. Zudem gibt es zur Verlängerung der volkstümlichen Seite einen spirituelleren Teil mit den von Béla Bartók gesammelten Rumänischen Weihnachtsliedern. Dabei handelt es sich um zwei Bände mit Colinde, von denen einige noch heute in Transsilvanien gesungen werden, als müsse man daran erinnern, dass die Ewigkeit tatsächlich im Dorf geboren wurde. Vergessen wir nicht, dass die rumänische Musik mit den byzantinischen Gesängen im Wesentlichen jene der Kirche war, und mit den Volkstänzen jene des Volks. Klassische Musik war mit Ciprian Porumbescu bei uns erst ganz am Ende des 19. Jahrhunderts zu finden. Angesichts der Geschichte ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Unsere Komponisten kamen sehr spät, als letzte Zeugen einer Tradition, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelte, jedoch aufgrund von ihrer Kurzlebigkeit völlig unbekannt blieb. Ich komme mit Sicherheit immer wieder auf unsere Volkslieder und -tänze zurück, da sie mir das Gefühl geben, den Augenblick intensiv zu erleben und dabei seine Vergänglichkeit zu akzeptieren. Ist nicht genau das der Kern der Musik als erlebte Sinneserfahrung? Ein großer Dirigent rumänischer Herkunft, Sergiu Celibidache, machte daraus sogar sein Kredo, als er jegliche Aufnahme verweigerte – und ich kann mir vorstellen, dass der Grund dafür die althergebrachte Weisheit der rumänischen mündlichen Tradition war. 33 DANA CIOCARLIE

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